Die Autorin
Anne NiemannVertr. Professorin für Entwerfen, Holzbau und Gebäudelehre, Hochschule Rosenheim
Heuer Dialog: Frau Niemann, Sie haben viele Jahre das Forschungszentrum „Einfach Bauen“ an der TU München geleitet. Was ist darunter genau zu verstehen?
Anne Niemann: Das Bauen ist unheimlich komplex geworden in den letzten Jahrzehnten, was eine hohe Fehlerquote in Planung und Ausführung sowie eine Überforderung von Bauherren und Nutzern nach sich zieht. Daher hat sich an der TU München 2015 das Forschungszentrum „Einfach Bauen“ formiert, um zu untersuchen, wie wir das Bauen wieder einfacher machen können. Ziel der Forschung ist, eine Strategie für Häuser zu entwickeln, die einfach zu bauen und einfach zu betreiben sind. Wir gehen hierbei von der Annahme aus, dass ein „einfach“ gebautes Haus über einen Betrachtungszeitraum von 100 Jahren Standard- und Niedrigenergiehäusern im Hinblick auf Umweltwirkung und Wirtschaftlichkeit überlegen ist. Auf Basis der Grundlagenforschung wurden zunächst Kernthesen abgeleitet, die beim Bau von drei Forschungshäusern in Bad Aibling angewendet wurden. In einer Langzeitmessung wurde anschließend untersucht, ob die Annahmen bezüglich Heizenergieverbrauch im Winter und sogenannten Übertemperaturgradstunden, also die Überhitzung im Sommer, eintreten. Es zeigte sich, dass auch mit einem sehr reduzierten Gebäudekonzept und geringem Einsatz von Haustechnik energieeffiziente Wohngebäude mit gutem Wohnkomfort entstehen.
HD: Wie lassen sich die Erkenntnisse in die Breite der Immobilienbranche transferieren?
Niemann: Viele Entscheidungen in der Planung sind von den spezifischen Gegebenheiten abhängig und müssen daher individuell für jedes Projekt getroffen werden. Dennoch lassen sich Überlegungen aus der Forschung in die Praxis transferieren:
Vorab müssen wir uns die Frage stellen: Müssen wir überhaupt neu bauen? Oder gibt es einen Bestand, den wir sanieren oder erweitern können? Wenn gebaut wird, dann natürlich mit nachwachsenden Rohstoffen und möglichst rückbaubar, zirkulär und so flexibel, dass das Gebäude möglichst vielseitig und langfristig nutzbar ist. Unsere Forschung hat gezeigt, dass bei intelligenter Planung, durch eine einfache Kubatur, viel Speichermasse und ausreichend große Fenster sowohl der Heizenergieverbrauch im Winter als auch die Überhitzung im Sommer reduziert werden können. In der Folge kann die Haustechnik auf ein Minimum reduziert werden. Denn eine einfache Gebäudetechnik, im Sinne von robusten, passiven und gleichzeitig nutzergeregelten Systemen, führt nicht nur zu einem reduzierten Energiebedarf und geringeren Installationskosten, sondern erhöht gleichzeitig die Nutzerzufriedenheit.
HD: Wenn die Gesellschaft sich immer mehr individualisiert, wie schafft sie es dann, sich beim Wohnen auf das Wesentliche zu reduzieren?
Niemann: Die Grundbedürfnisse der Menschen bleiben gleich: Eine standsichere Behausung, die vor der Witterung schützt, Licht und Luft hereinlässt und ausreichend Platz bietet. Darüber hinaus müssen wir uns als Gesellschaft jedoch ehrlich die Frage stellen: Welchen Komfort dürfen und können wir uns in Zeiten des Klimawandels und der Energieknappheit eigentlich noch leisten? Braucht wirklich jedes neue Wohngebäude standardmäßig eine Fußbodenheizung oder ist es zumutbar, sich im Winter auch mal warme Hausschuhe anzuziehen? Besteht der Luxus nicht viel mehr in flexiblen, intelligenten Grundrissen, die den Menschen mehr Freiheit in der Selbstgestaltung bieten? Die Lösung sehe ich nicht in noch strengere Baunormen oder einem generellen Absenken der Standards, sondern in einer großen Vielfalt an Gebäudetypen und Wohnformen, die der Vielfalt unserer Gesellschaft entspricht.
HD: Welchen Fokus setzen Sie in der Architektenausbildung an der Technischen Hochschule Rosenheim?
Niemann: Das Bauwesen steht vor großen Herausforderungen: Die Bevölkerung wächst weltweit, in den Industrienationen steigt der Anspruch an Wohnqualität und Raumkomfort. In Deutschland müssten jährlich ca. 250.000 Wohnung errichtet werden, um den Bedarf zur decken. Gleichzeitig ist der Bausektor aber für knapp 40 % der CO2-Emissionen weltweit verantwortlich. Hierauf müssen zukünftige Planer*innen Antworten finden. Wir versuchen, unsere Studierenden bestmöglich auf diese Verantwortung vorzubereiten, indem wir ihnen klimagerechtes Entwerfen und das ressourcenschonende Konstruieren mit natürlichen Materialien beibringen. Zudem ist nachhaltiges Gestalten entscheidend für den Erfolg eines Projekts: Nur ein ästhetisches Gebäude wird langfristig akzeptiert und damit dauerhaft sein. Letztendlich vermitteln wir den Studierenden das Verständnis für Zusammenhänge, damit sie eigenständig Lösungen entwickeln können und diese selbstbewusst vertreten.
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HD: Frau Niemann, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Yvonne Traxel.