16.05.2022
Timm Sassen MRICS

Interview mit Timm Sassen, CEO von Greyfield

Bestandsimmobilien: Ökologisch sind Redevelopments ein Muss!

Wer die CO2 Emissionen nicht nur während der Betriebsphase, sondern auch in der Bauphase betrachtet, bekommt eine andere Wahrnehmung von Bestandsimmobilien.

Warum steht der Neubau so stark im Fokus der Immobilienbranche?

Neubau ist einfach und kann jeder. Sich aber in eine schwierige Bestandsimmobilie „einzuarbeiten“, um sie mit neuem Leben zu füllen und sie den Menschen zurückzugeben: Das ist die unpopuläre Herausforderung. Nach unserer Überzeugung sollte die Variante Abriss-Neubau nur noch in außergewöhnlichen „Notfällen“ erlaubt werden. Also dann, wenn der Bestand - also die Gebäudesubstanz – wirklich nicht mehr zu erhalten ist. Nur, wenn es sowohl sozial als auch ökologisch einen nachweisbaren Mehrwert stiftet, etwas Bestehendes abzureißen und etwas Neues zu errichten, sollte man diesen Weg gehen. Und wenn sich ein Neubau überhaupt nicht vermeiden lässt, dann sollte er unter strengen Gesichtspunkten der Ressourcen- und Klimaneutralität gebaut und betrieben werden.

Bei Neubauprojekten spielen das veränderte Klimabewusstsein und auch die gestiegenen Energiekosten eine zunehmend stärkere Rolle – und beeinflussen maßgeblich die Miet- und Kaufentscheidungen. So kommen das „klimaneutrale Quartier“ oder der „nachhaltige Büroneubau“ bei den Zielgruppen für Wohnimmobilien und Büros gut an. Doch wie nachhaltig und klimaneutral sind die Projekte wirklich? Sicher steht das neue „Null- oder Niedrig-Energie-Haus“ in der Ökobilanz während des Betriebes besser da als jeder herkömmliche Neubau. In der Gesamtbetrachtung ist es aber nicht allein entscheidend, wieviel Energie und Emissionen in der Betriebsphase anfallen. Weit wichtiger ist die Frage, wie ressourcen- und klimaintensiv die Bauphase war. Dabei sind neben dem eigentlichen Neubau auch die Transportwege, die Herstellung von Baumaterialien und auch ein möglicher Abriss einer Bestandimmobilie zu berücksichtigen. Allein schon deswegen befinden wir uns in einer Zeitenwende – weg vom Neubau hin zu Bestand.

Welche Anreize sind notwendig, um der Bestandsentwicklung mehr Schub zu verleihen?

Zuallererst geht es um das Bewusstsein für unsere gebaute Umwelt. Das bedeutet zum einen zu erkennen, dass vergessene Orte, die einst voller Leben und Hoffnung waren, nun ihrem Schicksal als spärliche Überbleibsel ihrer Ursprünge gegenüberstehen. Zum anderen bedeutet es ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Bestandsimmobilien ein riesiges Ressourcen- und Rohstofflager darstellen und somit analog eine Fülle an gebundenen grauen Emissionen aufweisen. Die Emissionen, die einst für die Herstellung in die Umwelt emittiert wurden, gilt es wertzuschätzen, lange von Ihnen zu zehren und nicht durch einen erneuten Ausstoß durch einen Abriss und anschließenden Neubau zu verschwenden. Diese Haltung können wir uns nicht mehr leisten. Wenn man so an die gebaute Umwelt herangeht, gibt es unendliche Möglichkeiten, diese neu bzw. werterhaltend zu gestalten und energetisch zu optimieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass viele Bestandsgebäude bereits dort stehen, wo die Menschen leben. Wenn wir den Menschen als unseren Kunden verstehen, wird dies neben den Einsparungspotentialen, der entscheidende Wettbewerbsvorteil für Bestandsimmobilien sein.

Darüber hinaus werden Anreize aus der Politik, wie ein CO2-Budget zu Änderungen in der Beurteilung des Bestands führen. Wenn es diese Betrachtung der Budgets gäbe, müssten wir die Frage „Bestand oder Neubau“ vorher gar nicht definieren. Bei einem festgeschriebenen Budget wird jeder Investor oder Projektentwickler beurteilen müssen, wie er mit diesem Budget umgeht und neu bauen kann. Heutzutage können wir noch nicht annähernd CO2-neutral bauen, also müssen Alternativen gesucht werden. Eine erste Alternative können Reuse Materialien sein, welche aber immer noch mit Haftungsübernahmen und technischen Herausforderungen zu kämpfen haben und nicht flächendeckend funktionieren. Die erste Alternative ist daher der Bestandserhalt. Denn durch die Entscheidung gegen einen Rückbau können die CO2-Emissionen aus der Herstellung eingespart werden und durch Sanierungsmaßnahmen im Gebäude wird die Betriebsphase effizienter gestaltet. Unter dem Strich und in der Gesamt-Lebenszyklusbetrachtung können so Budgets eingehalten werden. Das ist doch unser Ziel.

Welche Herausforderungen sehen Sie neben der technischen Gebäudesanierung noch?

Herausforderungen bringt jedes Bestandsgebäude mit sich, sowohl baulich als auch technisch. Die erste Aufgabe bei einem Redevelopment ist es, die Umgebung zu beleuchten und den Bedarf für die Menschen vor Ort zu ermitteln. Zugleich muss man auch das Potenzial sehen, die Identifizierung der Menschen vor Ort mit der Immobilie, um somit die richtige Nutzergruppe zu finden. Natürlich sind enge Abstimmungen u.a. mit dem Plaungs-, Denkmal- und dem Bauamt essenziell für eine Umnutzung. Da haben wir in unseren Projekten viele gute Erfahrungen gesammelt. Entwickler, die mit Städten in einem Team spielen und nicht gegen sie, werden immer nachhaltige Nachnutzungen für Immobilien finden. Die Herausforderung ist es somit, primär an den Nutzer zu denken und weniger mit einer Investorenbrille auf die Bestandsgebäude zu schauen.

Inwieweit können wir zukünftig auf Neubau verzichten?

Ökologisch müssten wir das tun. Das sehen wir an der Geschichte unseres Unternehmens: In den zehn Jahren seit der Gründung von Greyfield ist viel passiert. Jetzt folgt die ganze Branche einer nachhaltigen Nutzung und der Bestand wird priorisiert. So sind wir als Greyfield keine Geisterfahrer mehr, sondern freuen uns, dass die Branche uns folgt, was das Thema Bauen im Bestand und nachhaltige Immobilienprojektentwicklung angeht. Wir reißen nicht ab und bauen neu, denn jeder Abriss und Neubau würde aktuell so viel CO2-Emissionen freisetzen, dass der Bestand den Neubau in der CO2-Bilanz immer schlägt.

Auch im Sprachgebrauch ist diese Entwicklung zu sehen. Die durch den angelsächsischen Sprachgebrauch geprägten Begrifflichkeiten des Greenfields und Brownfields sind seit längerem bekannt und geläufige Begriffe in der Immobilienbranche. Der Begriff Greyfields findet nun mehr und mehr als Neologismus Einzug in den immobilienwirtschaftlichen Sprachgebrauch. Denn ungenutzte Immobilien, die längst vergessen worden sind, prägen mit ihrer Masse aus grauem „grey“ Beton unsere gebaute Umwelt bzw. das „Field“ massiv und werden zu dem Hoffnungsträger in der Erreichung unserer Klimaziele. Doch auch vor zehn Jahren war doch bereits klar, dass das Bauvolumen, welches kontinuierlich steigt, mit einem sinkenden Flächenverbrauch kollidiert und wir freie Flächen als endliche Ressource verstehen müssen. Neubau hat somit einen großen Feind – den Flächenverbrauch. Daher müssen wir uns der Frage stellen: Ist Deutschland fertig bebaut?

Welchen Impact hat ESG auf die Bestandsentwicklung?

ESG Kriterien sollen den langen Weg der Nachhaltigkeit hin zu einer lebenswerten Zukunft für Investoren ebnen und beeinflussen. Es geht aber eben nicht nur um Investoren. Dieses Denken ist viel zu kurz gedacht. Es geht um uns als Mensch. Ein konformes Bestandsgebäude nach ESG-Kriterien ist auf Investmentmärkten interessant für Investoren. Aber was sagt das über uns und die tatsächlichen Auswirkungen auf die Umwelt aus? Unsere Generation hat es in der Hand und statt „Nach uns die Sintflut“, gilt künftig die Devise „Nach uns die Zukunft“. Dabei kann die Vergangenheit unsere Zukunft sein, denn unsere gebaute Umwelt liefert uns ein enormer Hebel zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele. Somit haben weniger ESG-Kriterien einen Impact auf die Bestandsentwicklung, vielmehr haben Bestandsimmobilien einen Einfluss auf ESG. Sie sind ein Instrument, um den Standards für Investoren nachkommen zu können und dabei die Zukunft auf eine positive Weise zu beeinflussen. Wir können auch anders, wir müssen es nur wollen – ESG Kriterien hin oder her. 

Der Autor
Timm Sassen MRICS
CEO
Greyfield Group