Der Autor
Martin KremmingPartner und Prokurist, CIMA Beratung und Management
Wenn Sie mich fragen, stimmte dieser Vergleich nie und wird zunehmend absurd. Denn eine Innenstadt ist kein Center und je mehr sich die postpandemische Stadt herauskristallisieren wird, desto offenkundiger wird dies. Die Planbarkeit im Nutzungsmix nimmt ab, Leerstände in Toplagen bis zur Kaufhausgröße sind vielerorts nicht mehr zu verbergen, Vertragslaufzeiten in Mietverhältnissen werden kürzer, der Handel zieht sich nicht nur aus den Nebenlagen zurück. Im Ergebnis kann die Innenstadt der Zukunft bunter sein als es ein Shopping-Center jemals vorgeben konnte zu sein. Vorausgesetzt heute werden die richtigen Weichen gestellt.
Aktuell erlebe ich, wie in vielen Städten der Versuch unternommen wird, über Sofortprogramme Impulse für die Innenstadtentwicklung zu geben. Diese Programme setzen oft bei Events und bei schnell umsetzbaren Maßnahmen für den öffentlichen Raum an und versuchen sich auch an den Leerständen, in dem Mietzuschüsse gewährt und z. T. über Wettbewerbe neue Nutzerkreise gesucht werden. Nahezu immer ist das Fazit: Die Expansionslisten der Filialisten sind längst Vergangenheit; mit Glück gibt es eine Auswahl aus innovativen Konzepten, die selten allein Einzelhandel umfassen. Oft sind es Mischungen aus Handel, Dienstleistungen und Gastronomie. Ob diese Programme nachhaltige Veränderungen und eine Stärkung der Innenstädte zur Folge haben, bleibt abzuwarten. Wichtig ist aber, dass etwas passiert. Und dass Besuchsanlässe für die Kundschaft geschaffen werden. Zugleich ist es ein Signal für die Gewerbetreibenden in der Innenstadt, dass der Standort im Fokus steht.
Was aber meines Erachtens noch zu selten passiert und wo möglicherweise jede Innenstadt etwas von den Shopping-Centern lernen kann ist, die Innenstädte aus der Sichtweise und den Bedürfnissen der Konsumenten zu betrachten. In der Marketingpraxis besitzt das Thema generell höchste Relevanz. Ich spreche vom Modell `Customer Journey´ (Kundenreise), welches die einzelnen Phasen definiert, die ein Kunde durchläuft, bevor er sich für den Kauf entscheidet und darüber hinaus. Die `Customer Journey´ umfasst dabei alle Berührungspunkte eines Konsumenten mit einer Marke, einem Produkt oder einer Dienstleistung. Dieser Grundgedanke kommt mir persönlich noch oft zu kurz, wenn es um Innenstädte geht; nur Teilbereiche davon haben Einzug in das Stadtmarketing oder die Corona-Sofortprogramme gehalten. Aber fangen wir ganz am Anfang an. Lassen Sie mich dieses Konstrukt der `Customer Journey´ auf einen Innenstadtbesuch potenzieller Kundschaft übertragen. Darf ich Sie bitten, folgen Sie mir bei meiner Reise?!
Phasen als Interaktions- bzw. Berührungspunkte Zunächst muss die Innenstadt (wieder) ins Bewusstsein der Konsumenten gerückt werden: Die `Customer Journey´ beginnt bereits, wenn sich die Kundschaft noch zu Hause auf dem Sofa befindet. Über Werbemaßnahmen, soziale Medien oder Direktansprache muss es gelingen, den Kundenstamm regelmäßig anzusprechen, damit Besuchsanlässe entstehen. Über digitale und physische Berührungspunkte muss ein Bewusstsein für die Stadt geschaffen werden. Über die Innenstadt muss ständig über die verschiedenen Kanäle kommuniziert werden, damit sie bei allen Zielgruppen im Gespräch bleibt. Diese Kommunikation sollte über das Stadtmarketing organisiert werden; gleichwohl spielt die “Stadtverwaltung” hier eine ebenso wichtige Rolle, genau wie jedes einzelne Unternehmen einer Innenstadt. Noch immer fällt mir auf, dass zu wenige Innenstadtunternehmen sich gegenseitig in den sozialen Medien fördern (z. B. durchs gegenseitige Liken). Erst darüber entsteht der Zulauf, den jedes Unternehmen allein nicht oder nur mit großem Aufwand generieren kann. Auch die in der Stadt Wohnenden sollten einbezogen werden, unzählige, kreative Mitmachaktionen finden sich auf Instagram oder Facebook als Inspiration. Die nächste Phase ist die Bewältigung des Wegs in die Innenstadt, die Mobilität: Die nun angezogene Kundschaft nutzt unterschiedliche Verkehrsmittel und hier kann sowohl Frustration entstehen (Pkw-Stau, Parkplatzmangel, ÖPNV funktioniert nicht, Radwege nicht ausgebaut, keine adäquaten Fahrradabstellplätze, keine barrierefreien Zugänge etc.), als auch eine gute Infrastruktur sowie ein guter Service den Unterschied machen. Einige Innenstädte in Deutschland sind durch Mobilitätsmasterpläne gestärkt worden und der Besuchende wird unterwegs fortwährend smart gelenkt, informiert und geleitet, immer öfter auch digital. Andere Innenstädte stehen hier noch ganz am Anfang und sind in Mobilitätsfragen eher in den neunziger Jahren und den damaligen Pkw-Stellplatzdiskussionen stehen geblieben. Die postpandemischen Innenstädte der Zukunft werden sich z. B. darin unterscheiden, ob wirklich barrierefreie Zugänge und digitale Leitsysteme vorliegen, von welcher Qualität und Vernetzungsintensität das ÖPNV-Angebot ist, wie durchdacht das Radwegenetz ist und inwieweit ausreichend Fahrradstellplätze für alle Fahrradtypen vorliegen, um nur einige Beispiele zu nennen. Haben die Konsumenten den Weg in die Innenstadt erfolgreich absolviert, folgt der Aufenthalt in der Innenstadt. Innenstadtbesuchende erwarten heute eine Mischung aus Entertainment, Versorgung, Bequemlichkeit, Komfort und Service. Hier muss sich jede Stadt neu justieren, da sich die Gewichte zwischen Handel, Dienstleistungen und Gastronomie verschoben haben und sich weiter grundlegend ändern werden. Neue Funktionen kommen mancherorts richtigerweise hinzu, wie Freizeit, Bildung und Kultur. Viele der aktuellen Sofortprogramme für Innenstädte setzen daher gerade bei dieser Multifunktionalität an. Ob neues Stadtmobiliar, neue Events, Begrünungsaktionen, geförderte Zwischennutzungen in Leerständen – es gibt kaum etwas, was nicht auf den Listen steht. Hoffen wir, dass diese notwendigen Belebungsmaßnahmen nachhaltig positive Auswirkungen auf unsere Zentren und Quartiere haben. Nach dem hoffentlich angenehmen und erfolgreichen Innenstadtbesuch erfolgt mit dem Rückweg wieder eine Mobilitätsphase, die durch eine geeignete Verabschiedungsgeste eingeleitet wird und hoffentlich reibungslos digital-analog gelenkt den Rückweg an den Wohnort ermöglicht. Auch diese Phase ist wichtig. Schlechte Leitsysteme etwa können den gesamten Besuch im Nachhinein ins Negative drehen, wenn die Kundschaft nur mit Mühe wieder nach Hause kommt.
Die Kundschaft ist wieder daheim, nun stehen die Begriffe Loyalität, Vertrauen und Kundenbindung im Vordergrund. Möglichst schnell soll sie zu einem Folgebesuch in der Innenstadt animiert werden. Die nächste Shopping-Tour sollte keineswegs im Online-Shop enden. Daher ist jetzt die Arbeit an der Kundin oder dem Kunden wichtig. Die Innenstadt muss insgesamt z. B. über das Stadtmarketing und entsprechende Kommunikation (über Bonusprogramme, Stadtgutscheine, Facebook, Instagram etc.) den Kontakt aufrechterhalten oder sogar die Kundenbindung intensivieren. Nur so bleibt die Innenstadt im Gespräch, Loyalität kann entstehen. Neben dem Stadtmarketing, ist aber jeder Betriebsinhaber ebenso aufgerufen, mit den eigenen Kunden in Kontakt zu bleiben. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass viele Betriebe das nicht schaffen und viele Stadtmarketing-Organisationen diese ureigene Aufgabe noch nicht richtig digital ausspielen. Bei der digitalen Sichtbarkeit, digitalen Treueprogrammen (z. B. Stadtgutscheine) oder personalisierten Angeboten sind viele Innenstädte nach meinem Dafürhalten noch sehr am Anfang, wenngleich im zweiten Corona-Lockdown vielerorts enorm nachgeholt wurde.
Dennoch bleibt zu hoffen (und die Zeichen stehen gut), dass die Begeisterung für unsere Innenstädte wieder bei Kundinnen und Kunden geweckt wird. Gerade im Zuge der momentanen Sonderkonjunktur durch Förderprogramme plädiere ich dafür, die Innenstädte wie aufgezeigt entlang des Modells der `Customer Journey´ laufend zu überprüfen und zu entwickeln. Diese Reise gehört auf den Prüfstand und muss durch entsprechende Maßnahmen immer weiter optimiert werden. An welchen Punkten kann die Innenstadt positiv überraschen und wo kann Frustration vermieden werden? Und in diesem Punkt kann ein Blick auf die Shopping-Center dann durchaus hilfreich sein, da diese Sichtweise dort seit Jahren praktiziert wird. Auch wenn für die Umsetzung in unseren Innenstädten mitunter ein langer Atem notwendig sein wird – seit langem standen die Innenstädte nicht mehr so im Fokus wie heute. Lassen Sie uns dieses Momentum für unsere Innenstädte nutzen!