...Entwicklungen wie Verschiebungen im stationären Einzelhandel, das Bedeutungswachstum von Gastronomie oder enorm steigende Grundstücks- und Baukosten lassen sich nicht immer vorhersehen. Und die Formel „Erdgeschoss = Handel“ gilt schon lange nicht mehr.
Anja Sturme: Herr Ehret in Zusammenarbeit mit bulwiengesa, den Projektentwicklungsunternehmen Hamburg Team und Interboden sowie der Bundesstiftung Baukultur ist nun die erste Erdgeschoss-Studie entstanden. Was ist der Beweggrund dafür gewesen, an dieser Studie mitzuwirken?
Michael Ehret: Wir brauchen Handlungsansätze für Quartiersentwickler, Stadtplaner und Investoren. Darüber hinaus muss es zu einer Symbiose zwischen Immobilienwirtschaft und Stadtplanung kommen, damit wir Erdgeschosse als Visitenkarten der Quartiere entwickeln können. Um dies zu erreichen, wollten wir mehr Transparenz in die Prozesse bringen und das Verständnis für die Anforderungen der Beteiligten untereinander verbessern. Als Projektentwickler arbeiten wir kooperativ miteinander. Durch die Zusammenarbeit mit Interboden und dem Hamburg Team war es möglich, Erfahrungen bei Quartiersentwicklungen in unterschiedlichen Projekten und Regionen in Deutschland mit einzubringen. Wir müssen weg von den Erkenntnissen der rein excel-basierten Innenstadtentwicklung hin zu einer nutzerorientierten Stadtentwicklung. Damit wir in Zukunft in der Lage sind resiliente Quartiere zu entwickeln, die auf die regionalen und lokalen Bedürfnisse zugeschnittenen sind. Lebendige Erdgeschossnutzungen sind die Visitenkarten der Quartiere!
Sturme: Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Studie und welche Handlungsfelder leiten sich daraus ab?
Ehret: Wir müssen uns mehr damit beschäftigen, für wen wir bauen. Wir bauen nicht für Investoren sondern für die Nutzer der Immobilien. Die herkömmlichen Kriterien für eine erfolgreiche Vermietung Bonität, 5- bis 10- jährige Mietverträge etc. haben in vielen Bereichen ausgedient. Wir müssen darauf schauen, dass auch lokale Mieter in die Erdgeschosse kommen sowie Mieter die Saisongeschäfte machen mit kürzeren Mietverträgen, warum nicht auch der Handwerkerbetriebe die sich normalerweise im weiteren Umfeld niederlassen, weil die Mieten zu hoch sind. Die Mischung macht es. Die Erdgeschosse müssen kuratiert werden. Flächenzuschnitte müssen dafür multifunktional sein, damit der nächste Mieter mit kurzfristigem Mietvertrag die Fläche ohne teure Umbaumaßnahmen weiter nutzen kann. Jede Stadt ist anders, aber man kann eine „Werkzeugkiste“ erstellen, mit der man jeden Standort individuell konfigurieren kann.
Impulsgeber für diese Prozesse sollten wir Projektentwickler aus der Privatwirtschaft sein. Wir sollten den Stein ins Rollen bringen und das Gespräch mit den Gewerbetreibenden in einer Stadt(teillage) und den Stadtplanern suchen. Dafür müssen wir über die eigene Grundstücksgrenze hinweg denken und kommunizieren. Wir müssen versuchen die Spielräume, die das Planungsrechtes bietet, in Werkstattverfahren auszuschöpfen, denn darauf zu warten, dass Gesetze geändert werden, dauert zu lange.
Der Gedanke der Quersubventionierung der Erdgeschosse durch Wohnen und Gewerbe in den Obergeschossen beschäftigt uns ebenfalls. Wenn wir in Zukunft auch über die 15 Minuten-Stadt ernsthaft nachdenken, muss man sich ebenfalls damit beschäftigen, dass Gewerbe innenstadtnah günstig Mietfläche findet.
Sturme: Gibt es ein aktuelles Projekt, wo Sie diese Vorgehensweise bereits umsetzen?
Ehret: Wir haben in der Wormser Innenstadt Galeria Kaufhof gekauft und nutzen das Gebäude momentan komplett um. Die Stärkung der Wormser Innenstadt ist uns dort ein zentrales Anliegen. Im Erdgeschoss vermieten wir nicht nur klassische Einzelhandelsflächen. Es gibt unter anderem einen Pop-up Store, der Kunstfreunde zum Lustwandeln einlädt. Ausstellungen, eine Galerie und auch die Schaufenster spielen eine große Rolle. Im hinteren Teil des Gebäudes ziehen Teile der Stadtverwaltung ein, obendrauf realisieren wir voraussichtlich Wohnungen. Co-Working Spaces und klassische Büros sind ebenfalls Teil des Konzeptes. Hier wagen wir mit einem bunten Mix Neues.
Sturme: Was ist ihr Fazit?
Ehret: Eine Blaupause für erfolgreiche Erdgeschosse gibt es nicht – als Projektentwickler müssen wir Impulse setzen, extrem gut zuhören, hinschauen und verstehen, damit wir die individuellen Bedürfnisse eines Standortes erfüllen.
Sturme: Herr Ehret, vielen Dank für das Gespräch.