20.08.2017
Thomas Beyerle

Vom Sick Building Syndrom zum Wohlbefinden in Gebäuden

Well Building Standard

Die deutsche Immobilienbranche liebt Labels – unbestritten. Genauer gesagt Gebäudezertifizierungen.

Und noch vor der Sommerpause hat sich ein deutsches Unternehmen mit Sitz in Hamburg entschieden, den neuen Firmensitz auch nach dem sog. „WELL Building Standard“ zertifizieren zu lassen. Ist dies der Beginn eines neuen Zertifikate Hype innerhalb der sog. „grünen Gebäude Revolution“? Konsequent zu Ende gedacht, war es nur eine Frage der Zeit, bis man von den „3 Säulen der Nachhaltigkeit“ über die objektspezifischen LEED, BREEAM oder DGNB Zertifizierungswelt auf den Nutzer und sein Wohlbefinden sich fort- und weiterentwickelte.

Jetzt also der Nutzer und sein Wohlbefinden – der WELL Building Standard IWBI. Die Zielrichtung ist klar: Gebäude so zu konzipieren und bauen, dass sie der Gesundheit („health“) und dem Wohlbefinden („wellness“) dienen. Viele Faktoren innerhalb der bebauten Umwelt haben Einflüsse auf die Gesundheit und Produktivität. Genau das darf man auch als rationales Argument anführen, um eine überzeugende Argumentation „ob es noch eines neuen Zertifizierungssystems bedarf“ anzuführen. Ob mit Zahlen der Weltgesundheitsbehörde oder der regionalen Krankenkasse untermauert: die Ausfallkosten pro Büroarbeitsplatz durch Krankheit seines Nutzers sind dramatisch, es entstehen nicht nur unternehmens- sondern letztlich volkswirtschaftliche Verluste. Vorsorge deshalb allenthalben. Denn nur noch die Älteren erinnern sich an das in den 80er Jahren aufkommende „Sick Building Phänomen“ beim Bezug neuer Bürogebäude. Nach internationaler Konvention (WHO 1982) wird dann von einem Sick Building Syndrom (SBS) gesprochen, wenn bei mehr als 10 bis 20 % der Beschäftigten eines Gebäudes unspezifische Beschwerden oder Symptome auftreten, die nach Verlassen des Gebäudes rasch wieder nachlassen. Leider hat sich dieser Umstand kaum in den Planungen neuer Gebäude niedergeschlagen, denn Ursachen des Sick-Building-Syndromes können nicht mit absoluter Sicherheit bestimmt werden.

Das vom International WELL Building Institute (IWBI) erstellte Zertifizierungssystem vereinigt dabei die Elemente „Air, Water, Nourishment, Light, Fitness, Comfort und Mind“ in den Ausprägungen „Applicable“ und „Achievd“. Ergebnis ist ein Scorewert, der sich zwischen 1 und 10 (Top) bewegt. Der Profi sieht hier unschwer eine starke Analogie zum amerikanischen LEED System. In der Tat, der praktische Schwenk ist gelungen, der WELL Building Standard ergänzt sich zum bisherigen LEED Green Building Rating System bzw. baut darauf auf. Dieser Systemzusammenhang hebt sich denn auch wohltuend ab, von den sonstigen, überzeugend daherkommenden singulären Insellösungen. Zumindest die erste Phase der „Abwarten wie es sich entwickelt mit der Marktgängigkeit“ wird damit vielleicht übersprungen. Mit der „Core and Shell Compliance“, dem „Tenant Improvment Certification“ und der „New Construction and Major Renovation Certifiction“ trifft man denn auch alte Bekannte aus den vergangenen Zertifizierungsprozessen – sofern man sich für LEED begeistern konnte.

Der neuralgische Punkt dreht sich gleichwohl die Frage wie es mit der Standardisierung einer eher subjektiven Einschätzung läuft: Das Wohlbefinden des Einzelnen ist letztlich ein sehr persönliches Erlebnisbündel. Diese individuellen Faktoren zusammenzufassen und eine Normierung einzuführen mag aus europäischer Sicht etwas befremdlich wirken – zumal mit Blick aufs Land des Marlboro Cowboys und Super Size Zuckergetränke. Zumindest mit einem hohen Anspruch, die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse der Gesundheitsforschung, siehe hierzu die hauseigene Publikationsreihe „WELLographies“, einfließen zu lassen in die Bauökonomie, wird deutlich, dass es sich um keine allzu starre Zertifizierungsdoktrin handelt. Noch dominiert freilich die rein us-amerikanische Sichtweise – die Bandbreite der Projekte deckt allerdings von office, residential- mixed-use, healthcare, retail/restaurant, education und student hosusing vieles ab. Wir dürfen deshalb gespannt sein, wenn im Herbst 2017 die deutsche Kommunikationsoffensive losgeht. Doch die starke Fokussierung in der Argumentation „was kostet es und was bringt es in US$ angegeben“, lässt erahnen, dass es sich nicht nur als reines Kostenthema inkl. Weltverbesserungszeigefinger entpuppt worunter viele der gängigen Zertifizierungen – rein ökonomisch betrachtet – noch immer leiden. Vor diesem Hintergrund: ja, es macht Sinn sich damit auseinanderzusetzen. Doch den Beginn werden ausschließlich Unternehmensimmobilien, vulgo Headquarters ausmachen. Ob diese Revolution in den vermietbaren Gebäudebestand einsickert und in einem messbaren Premium auf die Miete zum Ausdruck kommt, darf allerdings bis auf weiteres bezweifelt werden.

Der Autor
Prof. Dr. Thomas Beyerle
Head of Group Research, Managing Director