07.04.2017
Cliff Pfefferkorn

Chancen für den stationären Handel

Neue Bedeutung für lokale Sortimente

In Zeiten der unvermindert zunehmenden Bedrohung durch E-Commerce sucht der stationäre Handel einerseits nach Möglichkeiten, eigene, omnichannel-geprägte Stärken zu entwickeln und sich dadurch gegenüber dem reinen Online-Handel zu positionieren.

Andererseits schaut der stationäre Handel auf seine Schwächen und überlegt, wie er stationär bedingte Nachteile verkleinern oder eliminieren kann. Nicht überraschend wird dabei der lokale Warenbestand neben den lokalen Flächen- und Personalkosten als eine große Schwachstelle identifiziert. Anschaffungskosten, Lagerkosten oder lokale Überbestände stören die Bilanz, gerade im Vergleich zu Online Pure-Playern.

Viele Händler arbeiten deshalb intensiv am Abbau lokaler Sortimente. Die Lösungen dafür finden sie in Komponenten des digitalen Handels: Showrooming oder „One2Show – No2Go“ reduzieren den lokale Bestand auf ein Ausstellungsstück, die Ware wird im Anschluss über die E-Commerce-Aktivitäten des Händlers zum Kunden geliefert. Oder – im Sinne einer digitalen Regalverlängerung – wird selbst auf das Ausstellungsstück verzichtet und auch die Warenpräsentation im Laden erfolgt digital. Digitale Handelstechnologien helfen in diesen Fällen also dem lokalen Handel bereits dabei, die Schwachstelle „lokale Sortimente“ in den Griff zu kriegen.

Gleichzeitig hat die Digitalisierung des Handels bereits vorhandene oder gerade entstehende neue Kundenerwartungen geschaffen, die neue Möglichkeiten für die Nutzung lokaler Bestände bieten.

  • Same Day/Hour Delivery, also die zeitnahe Lieferung von Ware nach Hause.
  • Fixed Hour Delivery, die Lieferung der Ware innerhalb eines konkreten, eingeschränkten Zeitfensters.
  • Trunk Delivery, also die Lieferung in den Kofferraum eines Wagens mit digitaler Zugangsberechtigung für den Zusteller.
  • Pick-Up Points, die Abholung an einem stationären Ort zu einem feststehenden Zeitpunkt.
  • Drive Through, also die Abholung an einem Pick-Up Point aus dem Wagen zu einem festgelegten Zeitpunkt.

Alle diese Konzepte werden getrieben durch die Digitalisierung des Handels, vorrangig aus dem E-Commerce. Sie werden aber teilweise auch schon auf stationäres Einkaufen übertragen, in dem bspw. stationär gekaufte Ware zeitnah oder zu einem festgelegten Zeitpunkt nach Hause geliefert oder an Pick-Up Points abgeholt werden kann. Der digitale Handel schafft also nicht nur Möglichkeiten lokale Bestände abzubauen, sondern auch neues Potenzial, diese wertsteigernd zu nutzen. Produktergänzende Fulfillment-Services können dabei den Ausschlag bei der Gewinnung potenzieller Kunden oder deren Entscheidung zwischen konkurrierenden Angeboten geben.

Manche der genannten Use Cases sind nicht neu. Der Gedanke des Same Day/Hour Delivery hat Zeit gebraucht, um zu einem schlüssigen Konzept zu reifen. Erst effiziente IT- und Logistikinfrastruktur des Händlers und enge Koordination mit der Logistik ermöglichen kleinste Lieferzeitfenster. Gezieltes Fulfillment innerhalb einer Stunde braucht lokale Strukturen nahe am Kunden und Entscheidungen, wo und was, zu welcher Zeit erfolgen soll. Beispielsweise aus welchem Bestand geliefert wird.

Den überzeugendsten Beweis für den Wert lokaler Sortimente bietet ausgerechnet Amazon, das seine überregionale Logistikinfrastruktur um konzentrierte City-Logistik ergänzt. Zugleich ist es paradox, wenn der größte Online Versandhändler als wesentlicher Treiber der Reduzierung von Beständen im stationären Handel, nun selbst Infrastruktur für lokale Sortimente aufbaut und auch hier zum Innovationsführer wird. Amazons City-Logistik umfasst nicht nur innerstädtische Versand-Hubs (z.B. im Berliner Kudamm-Karree) und eBike-Kuriere, sondern auch eine reduzierte und flexible Versandverpackung, um die letzte Zustellmeile effizient bedienen zu können.

Was von Online Händlern erst noch mit großem Aufwand neu geschaffen werden muss, weist der stationäre Einzelhandel durch seine Verkaufs- und Lagerflächen in der Innenstadt teilweise schon auf. Damit bietet sich eine Tür für neue Potenziale und Wettbewerbsvorteile: Lokale Sortimente können die Lücken schließen, die noch bestehen, um Same Hour Delivery, Trunk Delivery und weitere Fulfillment-Optionen kundengerecht zu ermöglichen.

Das Sortiment ist zudem nach den unterschiedlichen Fulfillment-Möglichkeiten und nach der gegebenen Kundenrelevanz zu prüfen. Kosteneffizienz ist mit dauerhaften Schnelldrehern oder Aktionsware sicherlich leichter zu erreichen als mit Long Tail Produkten. Und während Waren des täglichen Bedarfs unkompliziert für neue Use Cases genutzt werden, sind für andere Sortimente spezifische Besonderheiten zu beachten. So sind bei verderblicher Ware, wie Feinkost, besondere logistische Anforderungen und die Gewährleistung kleiner, vorab planbarer Lieferfenster erfolgsentscheidend.

Die Umsetzung der Use Cases für lokale Sortimente stellen neues Terrain dar. Weil es noch keine Best Practices gibt, sind Innovationsgeist und ein strukturiertes Vorgehen gefragt. Denn die Herausforderung der zu schaffenden Konzepte liegt in der kommerziellen Schlüssigkeit und die oftmals fehlenden Voraussetzungen. Das sind einerseits Kapazitäten und Infrastruktur zur Koordination dezentraler, lokaler Bestände in Echtzeit. Andererseits werden Technik- und Logistik-Kompetenzen benötigt, um die Waren effizient zu verteilen. Im Vergleich zu Amazon liegen diese zumeist außerhalb der Kernkompetenzen des stationären Handels.

Ansatzpunkt bietet neben Aufbau und Stärkung eigener Kompetenzen, die geografische Nähe mehrerer Händler. Organisierte Einkaufsstätten, wie Shopping-Center oder Einkaufsbahnhöfe, aber auch Ladenstraßen bieten Möglichkeiten, Infrastruktur und Fulfillment-Services zu teilen. Shopping-Center werden vermehrt dem Plattformgedanken des eCommerce folgen und als Aggregatoren auch die digitale Nachfrage nach Waren bündeln. Daneben werden vermehrt Logistikkompetenzen die physische Infrastruktur ergänzen. Diese wird für Fulfillment, wie store-übergreifende Pick-up Points, innerstädtische Lagerfläche oder Trunk Delivery und Drive Through im Parkhaus, genutzt werden. Außerhalb von Shopping Centern können ebenso Logistik- und Sortimentssynergien erschlossen werden. Etwa durch lokale Kuriernetzwerke, Vernetzung der Sortimente im regionalen Filialnetz oder auch mit weiteren lokalen Händlern und die Bündelung der lokalen Angebote in verschiedenen Kanälen.

Insgesamt hoffen wir, mit diesem Gedankengang eine Inspiration dafür geschaffen zu haben, in den vorhandenen Assets des stationären Handels auch die gegebenen Werte für Omnichannel Commerce zu sehen und diese in mutige Konzepte einzubauen.

Der Autor
Cliff Pfefferkorn
Partner
eStrategy Consulting GmbH